Wie kann sich Hochschulbildung auf die Herausforderungen der Zukunft einstellen?

Transformation of Higher Education: Wie kann sich Hochschulbildung auf die Herausforderungen der Zukunft einstellen?

Von Thomas Becker

Das deutsche Hochschulsystem ist resilient. Es ist widerstandsfähig gegen Veränderungen und kommt auch nach stärkeren Erschütterungen wie einer Pandemie immer wieder zurück in seinen Ausgangsstatus zurück. Das ist Zeichen einer hohen organisatorischen Stabilität. Diese kann sehr zielführend sein. Wenn z.B. die angestrebten Resultate – also die Kompetenzen, die die Studierenden entwickeln – stabil sind, kann eine stabile Organisation den Weg zu diesen Resultaten planbar sicherstellen. Das funktioniert umso besser, je stabiler die Rahmenbedingungen sind. Wenn sich aber die Rahmenbedingungen signifikant ändern – unberechenbar werden, sich beschleunigen und emergente Entwicklungen hervorrufen – wird Stabilität zum Risiko.

„Das Bildungswesen ist seit jeher geprägt von einer systemimmanenten Kontinuität, die einerseits Verlässlichkeit für die am Bildungswesen beteiligten Akteure auf allen Ebenen bedeutet, jedoch gleichzeitig innovationshemmend wirkt.“

[Claus Wilke und Stefan Medinger[i]]

Diese organisatorische Stabilität ist u.E. ein Faktor, der die gesellschaftlichen Bildungs- und Erfolgspotenziale begrenzt. Der Mangel an Fachkräften, die zögerliche Innovationsfähigkeit und die Schwächen, Technologie in unternehmerische Erfolge zu transformieren sind strukturell bedingt. Deshalb muss die Lösung dieser Probleme an den Strukturen ansetzen.

Was sind diese Strukturen? Im Kern werden sie durch ein in Stufen aufgebautes Bildungssystem erzeugt. Auf der dritten Stufe stehen nach den schulischen Bildungsstufen die Angebote von Hochschulen (Higher Education). Diese sind in ihrer Form nach dem in den 1990er Jahren angestoßenen Bolognaprozess heute stärker als früher verschult und werden kleinteilig abgeprüft. Der dadurch geschaffene Europäische Hochschulraum (European Higher Education Area[ii]) ist ein großer Gewinn, hat in seinen Strukturen aber heute selbst Bedarf für Reformansätze.

1 Struktur der Hochschulbildung (Ist-Situation)

In Deutschland gibt es im Wesentlichen drei verschiedene Formen der Durchführung von höheren Bildungsangeboten:

  • Vollzeitstudium in Präsenz: Der größte Teil (rd. 85%) der rund 2,9 Mio. Studierenden[iii] entscheiden sich für ein Vollzeitstudium an einem Campus
  • Berufsbegleitendes Teilzeitstudium: Ca. 8% (231.000[iv]) Studierende entscheiden sich dafür, nicht in Vollzeit zu studieren, sondern nur abends und/oder an Wochenenden Veranstaltungen zu besuchen
  • Fernstudium: Vor allem seit der Corona-Pandemie ein großer Wachstumstreiber. Aktuell gibt es rund 200.000 eingeschriebene Fernstudierende (7%)

Ein Vollzeitstudium ähnelt grob der schulischen Bildung: Es gibt feste Erfolgsintervalle (Semester), in denen Veranstaltungen und Prüfungen fix terminiert sind. Dies bietet Orientierung und Struktur, erzeugt damit aber auch Inflexibilität. Je variabler die Lebensentwürfe sind, desto weniger passt dieses fixe Modell.

Ein Fernstudium dagegen ermöglicht flexible, individuelle Lernzeiten. Die Hochschulen liefern Lehrmaterial zum Selbststudium und ergänzende Werkzeuge wie begleitende Webinare, Lernstandskontrollen und Onlinevorlesungen an. Es fehlen dabei aber die affektiven Erfahrungswerte, die Studium und Lernerfolg wesentlich beeinflussen. Man kann das vergleichen mit Live-Konzerten während der Corona-Pandemie, die per Video gestreamt werden. Der Inhalt ist gleichwertig, das Erlebnis nicht.

Berufsbegleitende Teilzeitstudien sind unterschiedlich ausgeprägt, mal eher am Präsenzstudium, mal eher am Fernstudium orientiert und müssen daher nicht gesondert betrachtet werden.

Die Stabilität im Hochschulsystem wird durch einige administrative Pfeiler sichergestellt:

  • Initiale Entscheidung für ein Studienprogramm
  • Formale Einschreibung in dieses Studienprogramm gemäß Zulassungskriterien
  • Studium mit festgelegter Zeittafel (Stundenplan)
  • Examinierung mit vielen kleinen Einzelprüfungen

Diese seit Jahrzehnten gelernte und durch den zur Jahrtausendwende gestarteten Bolognaprozess noch verstärkte Struktur schließt u.E. viele mögliche qualifizierte Kandidat:innen aus (Durchlässigkeit), denn immer noch entscheiden familiäre Strukturen und finanzielle Möglichkeiten wesentlich darüber, wer tatsächlich studiert. Jeder vierte Studienanfänger schließt sein Studium nicht ab – eine in dieser Höhe nicht akzeptable Abbrecherquote. Und die Strukturen fördern falsche Lernansätze (Stichwort: Bulimie-Lernen): Die kleinteilige Prüfungsstruktur verhindert den Aufbau vernetzter, problemlösungsorientierter Kompetenzen.

1.1 Wahl des Studienprogramms

Es gibt allein in Deutschland rund 9.400[v] verschiedene Bachelor-Studienprogramme. Dass ein:e Kandidat:in eine wirklich fundierte Auswahl treffen kann, ist zumindest herausfordernd, im Regelfall wohl aber kaum möglich. Bildungsangebote gehören zu den Produkten, die als Experience Goods[vi] im Vorfeld einer Entscheidung nicht qualifiziert bewertet werden können. Durch die große Zahl an Programmvarianten wird dieses grundlegende Problem noch verschärft.

Wenn man aber nicht in der Lage ist, im Vorfeld eine optimale Entscheidung über das individuell richtige Angebot zu treffen, kann das zu einer folgenreichen Fehlallokation von zeitlichen Ressourcen, Geld, Motivation und letztlich Studienerfolg führen. Die Studienabbrecherquote von rund 28% im Bachelorbereich ist ein klares Indiz[vii].

Die Komplexität des Angebotsportfolios hat auch einen Bezugspunkt zum sozialen Kontext: Bildungsaufstieg[viii] – also aus Nichtakademikerfamilien heraus eine Hochschulbildung anstreben – führt durch die Unübersichtlichkeit von Programmen, Standorten und Formaten zu einer hohen Unsicherheit, die auf affektiver Ebene möglicherweise sehr geeignete junge Menschen vom Studieren abhält. Dadurch wird die Angebotskomplexität zu einer Einstiegsbarriere, die die Durchlässigkeit zu Bildungsangeboten limitiert.

1.2 Einschreibung

Eine Hochschule wird bis heute über Mitgliedschaft definiert. Studierende werden aufgenommen (immatrikuliert) und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aus der Rolle des Studierenden entlassen (exmatrikuliert). Und noch heute sind mit dem Status „Studierender“ wichtige Rechte verbunden (Sozialversicherung, Ausbildungsförderung etc.). Die Einschreibung erfolgt dabei zwingend in ein Studienprogramm, damit Zulassungsvoraussetzungen geprüft und Kapazitäten (Studienplatz) nicht überschritten werden.

Dies führt zu Zulassungsbeschränkungen (40% aller Studiengänge in Deutschland sind aktuell mit einem NC beschränkt[ix]) und möglichen Wartezeiten, obwohl der schulisch erworbene Notendurchschnitt kein geeignetes Prognoseinstrument für fachspezifischen und beruflichen Erfolg ist[x].

1.3 Zeittafel

Studienprogramme werden im Regelfall mit einem Studienverlaufsplan versehen, also einem verbindlichen oder idealtypischen Ablauf von Veranstaltungen über die verschiedenen Fachsemester. Innerhalb der Semester werden die Veranstaltungen dann an festen Orten zu festen Terminen mit festem Lehrpersonal eingeplant (Schedule). Dieser Schedule ist im Regelfall nicht studierendenzentriert, was zu ineffizienter Zeitnutzung führt und auch die Mobilitätskosten erhöht.

Bedenkt man, dass rund 85% aller Studierenden in Deutschland ihr Studium durch Nebenjobs und familiäre Unterstützung finanzieren muss[xi], ist dies ein weiterer Grund dafür, dass Studienbereitschaft und Studienerfolg beeinträchtigt werden.

1.4 Prüfungen

Studienprogramme sollen Kompetenzen entwickeln, was durch einen modularen Aufbau der Programme angestrebt wird. Im Schnitt werden in einem Bachelorprogramm rund 30 Module gefordert, die im Regelfall einzeln abgeprüft werden. Verwendet werden dabei im Sinne der Prüfungseffizienz häufig standardisierte Prüfungsformen wie Klausuren und Hausarbeiten.

Dies führt zu einer Zersplitterung in eine Vielzahl kleinteiliger Detailprüfungen, die weniger Kompetenzerwerb, als kurzfristige Reproduktion fördern, was man oft unter dem Schlagwort Bulimie-Lernen diskutiert[xii]. Die Folge ist allzu oft, „Lernen und Lehren auf das Prüfbare zu begrenzen“[xiii].

Auch die durchgehende Quantifizierung von Prüfungen sind im Zuge auf Future Skills[xiv] kritisch zu sehen. Zu diesen 21 identifizierten Future Skills zählen Kreativität, agiles Arbeiten, Kollaboration, Innovation und Digital Literacy. Die Messbarkeit des Kompetenzerwerbs in solchen Themenfeldern ist komplex. International wird daher bereits länger über „gradeless learning“ diskutiert mit individuellen qualitativen Reports über die erbrachten Leistungen: „In gradeless or grade-free learning, students earn a pass/fail, credit/no credit or strictly qualitative assessment instead of a grade (…) can help students become learning-oriented, rather than grade-oriented, thus encouraging the development of lifelong learners.“[xv]

2 Nachhaltige Entwicklung für eine bessere Welt

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 2015 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Welt verabschiedet (Sustainable Development Goals; SDGs)[xvi]. Daten, insbesondere des UNESCO-Weltbildungsberichts[xvii], zeigen eindeutig, dass Bildung essenziell für den Erfolg aller 17 nachhaltigen Entwicklungsziele ist. Eines der 17 SDGs fordert dabei explizit, dass die politischen Handlungsträger „für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen sicherstellen[xviii].

Wie lässt sich das realisieren? Es geht nicht per se um ein „Mehr“ an Studienplätzen, sondern um einfacheren, chancengleichen und durchlässigen Zugang zu Bildungsangeboten. Dieser lässt sich durch Technologie – Stichworte: digitale Transformation, 24/7-Flexibilität und künstliche Intelligenz – umsetzen.

Bildung ist die wichtigste Ressource der heutigen Zeit, insbesondere in Regionen, die arm an natürlichen Ressourcen sind, wie dies für Europa charakteristisch ist. Die Rolle Europas in der Welt ist nur durch bessere Bildung zu bewahren. „There is only one thing in the long run more expensive than education: no education“ ist eine vielzitierte Aussage von John F. Kennedy. Denn nur durch Bildung entsteht Wohlstand, nur Bildung sichert Wohlstand. Die Frage ist also: Wie kann man Bildung bestmöglich organisieren? Bestmöglich im Sinne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, also mit möglichst wenig Fehlallokation von Ressourcen, ergebnisorientiert, durchgängig und offen. Um den Status Quo zu verbessern, braucht es Bildungsinnovation.

3 Bildungsinnovation als Prozessinnovation

Wenn Innovation in der Bildung das Ziel ist, sollte man zuerst das Feld der Innovationstätigkeit bestimmen. Gemäß des Oslo Manuals der OECD lassen sich vier Arten von Innovationen unterscheiden[xix]:

  • Produktinnovationen wie z.B. GPS
  • Marketinginnovationen wie z.B. Franchising
  • Organisationsinnovationen wie z.B. Lean Management
  • Prozessinnovation wie z.B. E-Commerce

Um den Sektor tertiärer Bildung („higher education“, ISCED-2011 Level 6 und 7) grundlegend zu innovieren, bietet es sich an, durch neue Prozesse die Strukturen zu verändern, ähnlich wie das im Einzelhandel durch die Einführung von E-Commerce vor gut 25 Jahren umgesetzt wurde. Der Erfolg von E-Commerce, der mittlerweile rund 20% aller Einzelhandelsumsätze weltweit darstellt, basiert letztlich auf drei zentralen Faktoren:

  • Convenience (24/7-Verfügbarkeit, Freemium etc.)
  • Transparenz (Preisvergleiche, Empfehlungen und Bewertungen etc.)
  • Angebotserweiterung (Long-Tail-Prinzip, Mass Customization etc.)

Diese drei Faktoren unterscheiden digitalen Distanzhandel grundlegend von lokalen Handelsgeschäften und erzeugen vielfältige Win-Win-Situationen, weshalb man fragen kann, ob oder, besser, wie sich diese belastbaren Erfahrungen auf den Bereich Higher Education anwenden lassen.

Wie könnten geänderte Prozesse zu einem neuartigen Ansatz führen, wie Hochschulbildung ausgespielt wird? U.E. kann man das parallel zu den drei Erfolgsfaktoren bei der Prozessinnovation im Einzelhandel darstellen und dabei auf wesentliche Forderung nach „disruptiven Innovationen“ im Bildungsbereich abstellen[xx].

3.1 Convenience: Flexibles Lernen ohne fixe zeitliche und örtliche Strukturen

Die Entscheidung für ein konkretes Studienprogramm an einer Einrichtung ist nicht nur aufwändig, sondern auch per definitionem nicht wirklich rational zu treffen. Nimmt man dies als gegebenen Umstand und konzentriert sich weiter nur auf die Durchführung von Studienprogrammen, fällt ein großer Convenience-Aspekt ins Auge: Die Nutzung des Dienstleistungsangebots – im Kern also die Lehrveranstaltungen und Übungen – sind komplett vom Anbieter vorgegeben und in vielen Fällen auch durch räumliche Kapazitäten begrenzt. Die Entscheidung, wann ich was und wie intensiv studiere, wie ich die Inhalte lerne, in welcher Reihenfolge etc. sind allesamt durch das Organisationsdesign der Hochschule (personelle und sachlich Ressourcen) und die akkreditierten Qualitätsprozesse bestimmt.

Warum ist das so? Weil sich Hochschulen wie seit Jahrhunderten gewohnt an Klassenverbänden ausrichten, die an festen Orten gleichzeitig unterrichtet werden. So wie sich Einzelhändler lange daran orientiert haben, dass sie an festen Orten die Kunden zu festen Zeit empfangen und das verkaufen, was vorrätig ist. Digitalisierung hat im E-Commerce wesentliche Vorteile realisiert. Digitalisierung kann in der Hochschulbildung ähnlich massive Veränderungen bewirken zum Vorteil aller beteiligten Stakeholder-Gruppen, wenn die Zugänglichkeit zu Bildungsangeboten ohne Fristen, feste Termine, anbieterseitige Vorgaben etc. realisiert werden kann.

Um das umzusetzen, müssen die Kernprozesse kompetenzorientierter Bildung entsprechend flexibilisiert werden:

  • Lernangebot (das Lehren): Bestmögliche didaktische Aufbereitung von „gesichertem“ Wissen in Form eines multimodalen, whenever und whereever aufrufbaren „Body of Knowledge“ (was die letztlich zentrale Frage des Verhältnisses von synchronen und asynchronen Angeboten deutlich zugunsten der Asynchronität verschiebt)
  • Wissenserwerb (das Lernen): Bestmögliche individuelle Unterstützung (Coaching) bei der persönlichen Erarbeitung des Wissens im eigenen Tempo, mit der eigenen Lernmethodik und zu den eigenen Zeiten (was der Forderung nach einer Vielfältigkeit der Lernorte Rechnung trägt[xxi])
  • Selektive Wissensanwendung (das Können): Das individuelle Wissen in konkreten Fachfragestellungen kompetent anwenden
  • Vernetzte Wissensnutzung (das Tun): Diese Fachkompetenz interdisziplinär und transdisziplinär zur Lösung komplexer Fragestellungen nutzen

3.2 Transparenz: Unabhängige Qualitätssicherung der Lehre

Was ein Studierender letztlich durch seine Hochschule bzw. das Lehrpersonal geliefert bekommt ist äußerst volatil. Dies ist einerseits Folge der grundgesetzlich zugesicherten Freiheit der Lehre[xxii]. Andererseits ist sie Folge der Schwierigkeit, die Qualität der Lehre außerhalb eines normativen Rahmens zu gestalten.

Qualität wird im industriellen Bereich im Wesentlichen als Fehlerfreiheit (Prozessqualität) und das Erfüllen einer Erwartungshaltung (Produktqualität) gesehen. Die erste Perspektive bezieht sich vor allem auf die organisatorischen Voraussetzungen, ein Leistungsniveau zu definieren und dies verlässlich auf gleichbleibendem Niveau zu liefern. Die zweite Perspektive fokussiert dagegen die Kundenseite und erklärt Zufriedenheit als positiven Abgleich mit der initialen Erwartung. Wie kann man diese Erwartung beeinflussen und nutzen, um damit langfristig den Studienerfolg zu sichern?

Aus den Erfahrungen mit 25 Jahren E-Commerce kann man hier zwei Impulse herausarbeiten, an denen Verbesserungen direkt ansetzen können:

  • Das Dienstleistungsangebot ist heute nur ex post durch Lehrevaluationen von den Studierenden zu bewerten – und dann auch immer nur auf das jeweils genutzte Angebot, ohne eine Referenz zu einer auch anders möglichen Durchführung zu haben.
  • Diese nachträgliche Bewertung der Dienstleistungsangebote kann nicht oder nur eingeschränkt für die eigene Entscheidungsfindung genutzt werden

Angesprochen ist hier also Struktur und Nutzung von Evaluationen als gesetzlich vorgeschriebener Rahmen, die Zufriedenheit der Studierenden regelmäßig abzufragen und für die Weiterentwicklung des Lehrbetriebs zu nutzen. Die aktuelle Qualitätssteuerung an Hochschulen ist sicherlich herausfordernd, aber ähnlich sicher nicht wirklich leistungsfähig.

Innovationspotenziale ergeben sich zum einen in der Erweiterung des Kreises der Bewertenden, also nicht nur Studierende zu fragen, sondern auch das Feedback Lehrender (Peer Groups) und externer Organisationen (Unternehmen, Berufsverbände, Kammern etc.) strukturiert zu erfassen und so eine 360-Grad-Evaluation zu ermöglichen. Diese Ergebnisse wiederum müssten einfach, verständlich und sofort einsehbar sein (also etwa wie das von Amazon genutzte Five-Star-Rating), damit Studierende vor der Belegung einschätzen können, was sie erwartet. Das würde quasi automatisch zu einer „Qualitäts-Monopolisierung“ führen, d.h. wenn alle Angebote denselben Preis haben und denselben Regeln folgen, würden sich alle Studierende für die beste Veranstaltung entscheiden. Es gäbe für jedes einzelne Fach quasi nur noch eine „best of breed“ Veranstaltung.

3.3 Angebotserweiterung: Variabler bottom-up-Aufbau der Programme

Den Zugang zu Hochschulbildung kann man deutlich erleichtern, wenn man nicht die Auswahlentscheidung für ein komplettes Studienprogramm an den Anfang stellt, sondern die Varianz der Module nutzt, um Studieninteressierten im Vorfeld ein klares Bild zu vermitteln, welche Inhalte tatsächlich ein Studium ausmachen. D.h. nicht das Studienprogramm sollte entscheidend sein, sondern die im Programm tatsächlich vermittelten Kompetenzen und die Wege, mit denen der Anbieter den Bildungserfolg unterstützt. Tatsächlich ist die Situation aber heute so:

  • Heute dominiert ein Programm (ein Studiengang) den gesamten Lebenszyklus von Higher Education Angeboten: Von der Akkreditierung bis zur Durchführung und Evaluation. Und diese Programme sind exklusiv angelegt: Man studiert das eine und damit alles andere nicht.
  • Das Lernangebot muss zum Lernen und damit zu individuellem Handeln anregen, denn Lernergebnisse werden vom Studierenden und nicht von der Hochschule erzeugt. Aber wie individuell sind die Lernangebote von Hochschulen?

Aktuelle Hochschulbildung wird auf hohem Aggregationsgrad angeboten (Studienprogramm) und dann im Ansatz „one size fits all“ durchgeführt. Zielführender wäre es, Hochschulbildung nach Themen und Kompetenzen anzubieten und die Durchführung auf echtes 1:1 Coaching zu individualisieren. Jeder Lernerfolg ist ein individuelles Ergebnis. Die Lehre selbst kann nicht individualisiert werden. Was aber sehr wohl individuell durchgeführt werden kann und individuell durchgeführt werden sollte, ist die bestmögliche Unterstützung der einzelnen Lernenden durch personenzentrierte Lernerfolgsvorbereitung (Study Assignments).

Die fixe Konstruktion der Studienprogramme (Ziele-Module-Matrix) könnte flexibilisiert werden im Sinne einer Baugruppenlogik, die vielfältige Wege ermöglicht:

  • Einzelne Fachmodule, deren Bestehen zertifiziert wird
  • Kompetenzgruppen aus inhaltlich zusammenhängenden Fachmodulen, deren Abschluss zu einem akademischen (ECTS-bewehrten) Micro Degree führt
  • Flexible Kombination aus Micro Degrees zu unterschiedlichen Undergraduate-Abschlüssen (Bachelor), mit wahlweise 180, 210 oder 240 Credit Points (ECTS)
  • Anschluss von konsekutiven und weiterbildenden Graduate-Abschlüssen (Master)

4 The Learning Excellence Funnel

Fasst man die Aspekte aus Kapitel 3 zusammen, lässt sich ein Blueprint für einen prozessinnovativen Ansatz im Bereich Higher Education ableiten. Ein neues Bildungsangebot, das mehr Durchlässigkeit und Zugangsmöglichkeiten bietet, dabei zugleich den individuellen Lernerfolg begünstigt, sollte diese Kriterien erfüllen:

  • Angebote immer flexibel verfügbar halten (24/7)
  • auf höchstem und schwankungsfreien Qualitätsniveau („Flagship Lectures“)
  • mit individueller 1:1 Unterstützung der Lernenden im Hinblick auf den Lernerfolg (Study Assignments)
  • und voller Transparenz über Kundenzufriedenheit durch öffentliche Bewertungen und Kommentierungen (Recommendation)
  • sowie einer variablen bottom-up Programmwahl: Erstmal mit dem Studium anfangen und sich erst im Laufe des Studiums in den passenden Abschluss hineinentwickeln (Reverse Study Choice)

Bildnachweis: Von SIMON LEE [Lizenz] via Unsplash


[i] Claus Wilke und Stefan Medinger (2022): Disruptive Innovationen in der Bildung. In: Krauss, S., Plugmann, P. (eds) Innovationen in der Wirtschaft. Springer Gabler, Wiesbaden

[ii] Vgl. https://www.ehea.info/page-how-does-the-bologna-process-work

[iii] Vgl. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/_inhalt.html

[iv] Vgl. https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/teilzeitstudium-wird-weiterhin-beliebter-5130

[v] Vgl. https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-03-Studium/02-03-01-Studium-Studienreform/HRK_Statistik_BA_MA_UEbrige_WiSe_2021_22.pdf

[vi] Eigentlich sind Bildungsangebote sogar Credence Goods, also Güter, die man selbst nach ihrer Nutzung nicht wirklich bewerten kann; vgl. https://www.acrwebsite.org/volumes/6817/volumes/v15/NA-15

[vii] Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/bildung/uni-in-diesen-faechern-brechen-besonders-viele-ihr-studium-ab-a-d2ab4b79-0f3d-4a59-b73b-47a175ed697c

[viii] Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/410108/0b769f4ea73d0fbd83c211bd32440964/WD-8-060-13-pdf-data.pdf

[ix] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1018637/umfrage/numerus-clausus-nc-quote-nach-bundeslaendern-im-wintersemester/#:~:text=Bundesweit%20sind%20knapp%2040%20Prozent%20der%20Studieng%C3%A4nge%20zulassungsbeschr%C3%A4nkt.

[x] Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-numerus-clausus-als-auswahlkriterium-weiterhin-100.html

[xi] Vgl. Martina Kroher, Mareike Beuße, Sören Isleib, Karsten Becker, Marie-Christin Ehrhardt, Frederike Gerdes, Jonas Koopmann, Theresa Schommer, Ulrike Schwabe, Julia Steinkühler, Daniel Völk, Frauke Peter und Sandra Buchholz (2023): Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2021, S. 100 (https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/4/31790_22_Sozialerhebung_2021.pdf?__blob=publicationFile&v=9

[xii] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/wissenschaftsrat-favorisiert-studium-zur-persoenlichkeitsbildung-18000547.html

[xiii] Norbert Ricken und Sabine Reh (2017): Prüfungen – systematische Perspektiven der Geschichte einer

pädagogischen Praxis. Einführung in den Thementeil, in: Zeitschrift für Pädagogik 63 (2017) 3, S. 248

[xiv] Vgl. https://www.stifterverband.org/medien/future-skills-2021

[xv] Chris McMorran, Kiruthika Ragupathi und Simei Luo (2015): Assessment and learning without grades? Motivations and concerns with implementing gradeless learning in higher education, in: Assessment & Evaluation in Higher Education, DOI:10.1080/02602938.2015.1114584

[xvi] Vgl. https://sdgs.un.org/goals

[xvii] Vgl. https://www.unesco.de/bildung/agenda-bildung-2030/unesco-weltbildungsbericht

[xviii] Vgl. https://www.unesco.de/bildung/agenda-bildung-2030/bildung-und-die-sdgs

[xix] Vgl. https://www.oecd.org/sti/theoecdinnovationstrategyfurtherinformation.htm

[xx] Vgl. Claus Wilke und Stefan Medinger (2022)

[xxi] Vgl. Claus Wilke und Stefan Medinger (2022): 140ff.

[xxii] §5 Abs. 3 GG

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